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Leben in den digitalen Medien und Netzen

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Das Bootlab im Widerstand gegen die kommerzielle Aneignung der Medienkultur

Wer es für wahrscheinlich hält, daß im größtmöglichen Chaos der beste Ort für Kreativität zu finden ist, der ist hier richtig: im Bootlab, in Mitte, in der Ziegelstraße 20, im ehemaligen Forschungs- und Technologiezentrum der deutschen Telekom Ost.

Schon den Eingang haben viele nur schwer als solchen erkannt. Aber es ist einfach die Tür in das Gebäude, die am wenigsten einladend aussieht, die nicht Auskunft gibt, wer hier zu finden ist, und von der man wohl kaum annimmt, daß sie sich öffnen ließe. Aber wer die Klingel findet und bedient, hat gute Chancen, wenn es nicht gar so früh am Tag ist.

Mit dem im Jahr 2000 gegründeten gemeinnützigen Verein Bootlab e.V. schufen sich rund 30 Gruppen und Einzelpersonen eine kulturelle Institution. In diesem Zusammenhang wird an unterschiedlichen Medienprojekten gearbeitet: digitale Audio- und Videoproduktion, Publikation und Streaming von Texten, Bildern und Sound, Entwicklung von freier Software mit den dazugehörigen künstlerischen und kulturellen Arbeitsweisen, kritische Medientheorie, freie künstlerische und kuratorische Arbeit. Im Bootlab gibt es sehr schnelle Internetleitungen, Arbeitsplätze, Räume, ein Ton- und Sendestudio, drei Kaffeemaschinen und jede Menge Müll. Manche Arbeitsplätze werden geradezu legendär von bestimmten Personen schon seit Jahren gehalten. An anderen arbeitet jemand für ein Jahr, für eine Woche, für eine Nacht. Manche Schreibtische sehen bewohnt aus, obwohl hier schon lange keiner mehr war, und manche Personen arbeiten hier, obwohl sie schon lange keinen Arbeitsplatz mehr haben.

In der Sofaecke kann man sich niederlassen, ohne allzuviel falsch zu machen. Kann natürlich sein, man gerät dort in eine heftige Krisensitzung darüber, wie das nun eigentlich alles weitergehen soll, mit dem Bootlab überhaupt, den Projekten, dem Dreck und den Finanzen. Krisensitzungen sind das Beste, und es ist tröstlich zu wissen, daß ein so fragiles Gebilde schon fünf Jahre höchst produktiv überstanden hat. Kann auch sein, man findet sich nach einiger Zeit im ganz persönlichen Gespräch mit der Künstlerin aus Albanien, die hier Praktikantin ist, mit dem Leiter der Transmediale, mit der Stipendiatin aus New York, Musikern aus Japan und aus Österreich, der Videokünstlerin aus Reykjavik, dem Kulturredakteur der FAZ. Hochschullehrer, Computerkünstler, Netzkünstler, Filmleute, Radioleute, Kuratoren und Kulturpolitiker treffen sich hier.

Das Bootlab ist ein Umschlagplatz von besonderer Bedeutung. In gewisser Weise eine Welt für sich, eine Parallelwelt. Es geht hier um ein Leben in den digitalen Medien und Netzen, technologisch selbstbestimmt, ästhetisch und formal treffsicher. Es geht hier darum, was von der wirklichen Wirklichkeit – „real reality" im Gegensatz zu „virtual reality" – bleibt, wenn man den Anbruch des digitalen Zeitalters wirklich ernstnimmt. Und es geht um Forschung, Experiment und ungeduldige Entwicklung dessen, was eine Medienwelt zu bieten hat, wenn man sie selbst voran- und weitertreibt. Dazu gehört dann auch notwendigerweise der Widerstand gegen die kommerzielle Aneignung der medialen Kultur innerhalb und außerhalb des Internets. „Lab" heißt also Laboratorium, Arbeits- und Forschungsstätte, Versuchsraum. „Boot" ist ein Begriff aus der Informatik und heißt Starten oder Initiieren. Und ein Boot ist auch ein Raum für sich, der sich und diejenigen, die sich darin befinden, über Wasser hält, mit dem man aufbrechen kann zu neuen Horizonten.

Die Liste der Bootlab-Projekte ist so lang, daß hier nur einige wenige besprochen werden können. Schon seit Beginn gibt es das Klubradio, bei dem jeder der vertretenen Clubs in Berlin seinen eigenen Radiokanal hat, der normalerweise rund um die Uhr läuft. Textz.com ist eine nach wie vor brisante Sammlung literarischer Texte zur freien Verfügung, und THE THING war die erste, mittlerweile legendäre Plattform für Kunst und Künstler weltweit.

Exstream war ein zweijähriges, internationales Medienkunstprojekt, in dem Künstler aus Großbritannien, Österreich, Bulgarien, den Niederlanden und Deutschland an einer neuen transeuropäischen Verständigung und Kulturpraxis arbeiteten. Es war erklärtes Ziel, in der realen und virtuellen Öffentlichkeit, unter Einsatz selbstbestimmter Technologien wie freier Software und direkter Übertragung ins Internet, neue Netzstukturen und Synapsen zu schaffen. Die Konferenz „Free Bitflows" 2004 in Wien brachte noch einmal alle Beteiligten zusammen und wurde Ausgangspunkt für neue Initiativen zur Copy right/Copy left-Debatte.

Das Radioprojekt reboot.fm muß auf jeden Fall ganz besonders hervorgehoben werden, denn es war eine Art Testlauf für ein freies Radio in Berlin, gefördert von der Kulturstiftung des Bundes. reboot.fm war ein unabhängiger Radiosender, von Februar bis April 2004 für 18 Stunden am Tag in Berlin zu empfangen. Die Sendungen wurden selbst produziert von einer Vielzahl lokaler und internationaler Radioprojekte, Gruppen und Einzelpersonen. reboot war der Versuch, jenen Radiosender vorstellbar zu machen und dauerhaft zu etablieren, der in Berlin so offensichtlich fehlt. Einen Sender, der Formate erlaubt, die im heutigen Formatradio nicht vorkommen, dessen Nachrichtenprogramm sich nicht auf das Verlesen von Agenturmeldungen beschränkt, dessen Musikprogramm mehr bietet als bloß die größten Hits vergangener Dekaden und dessen Vorstellung von Partizipation über die Veranstaltung von Gewinnspielen hinausgeht. reboot.fm war aber nicht nur ein Radiosender, sondern zugleich ein Software-Entwicklungs- projekt für eine freie Radio-Software, die auch anderen unabhängigen Radiosendern zur Verfügung steht. Außerdem sollte ein Lizenzmodell entwickelt werden, das den Austausch von Programmen zwischen unabhängigen Radiosendern erlaubt, die kommerzielle Weiterverwertung unbezahlter Radioarbeit hingegen verhindert. reboot.fm sollte ein Radio mit Ecken und Kanten sein, das die Bedingungen, unter denen es hergestellt wird, selbst hörbar macht: Einige Moderatoren werden zu schnell sprechen, einige Platten verkratzt sein.

Eine aktuelle Veranstaltungsreihe, die man auch in Zukunft wird besuchen können, ist das pirate cinema berlin. Immer sonntags, so ab 20.30 Uhr, ist die Eingangstür in der Ziegelstraße weit geöffnet, und es gibt Kino. Der Eintritt ist frei. Das Programm ist jeweils in der Woche vor der Vorstellung auf der Mailingliste „rohrpost" zu finden und ist auf jeden Fall interessant und überraschend. Während des Films und auch danach ist die Bar geöffnet, und es kann spät werden. Party ist auch bei anderen Anlässen, und es gibt ab und zu Gastveranstaltungen und immer wieder künstlerisches Programm. So war kürzlich in der Männertoilette eine Videoarbeit installiert: Ein Soldat war zu sehen, der in einem nicht endenden Loop sein Gewehr zärtlich streichelte, dazu der Sound einer lustvoll stöhnenden Frau. Wer neugierig geworden ist, kann einfach mal vorbeischauen. Wie eingangs erwähnt. Wer die Klingel findet, hat eine gute Chance.

Susanne Gerber

Weiteres unter www.bootlab.org. Projekte unter: http://klubradio.de, http://textz.com, http://bbs.thing.net, http://ex-stream.net, www.reboot.fm, http://piratecinema.org.